Herr Dr. Süß, nach der Coronavirus-Pandemie stellen nun zusätzlich die Konsequenzen aus dem Krieg in der Ukraine unser Leben und unsere Wirtschaft auf den Kopf? Worauf müssen wir uns einstellen? Welche Lehren lassen sich anwenden?
Dr. Dirck Süß: Die Pandemie war ein „schwarzer Schwan“, eine totale Überraschung, mit der in einem solchen Ausmaß niemand gerechnet hatte. Ähnliches gilt für den Krieg in der Ukraine: Trotz im Nachhinein deutlicher Vorzeichen haben die meisten von uns auch nicht mit einer Zuspitzung des Konflikts in dieser Dimension gerechnet. In beiden Fällen haben wir die Herausforderung bislang gut gemeistert. Es gibt eine große Koalition der westlichen Welt gegen Putins Aggression und wie in der Pandemie können Bürger und Unternehmen darauf vertrauen, dass unser rechtsstaatliches politisches System und die Verwaltung funktionieren. In der Pandemie haben fast alle mitgespielt, blieben zu Hause und setzten ihre Masken auf. Die Unternehmen haben sich umgestellt, und auch die Institutionen wie das RKI und die STIKO haben funktioniert. Jetzt ist die Politik gefragt, unsere Energieversorgung zu sichern und an einer Rückkehr zum Frieden zu arbeiten.
Bisher war das Vertrauen, dass in Deutschland alles rechtmäßig und richtig läuft, im Großen und Ganzen vorhanden, und das war essenziell. Der Staat ist gut beraten, dieses Vertrauen weiter zu erhalten. Allerdings sind während der Pandemie zwei Mängel deutlich geworden. Wir sind an die Grenzen des Föderalismus geraten. Die Politik muss sich darüber klar werden, in welchen Strukturen Krisenmanagement zukünftig stattfinden soll. Und es ist offenkundig geworden, dass die Verwaltung beim Thema Digitalisierung noch sehr viel aufholen muss. Die Unternehmen sind hier deutlich weiter. Die entschlossene und sehr schnelle Reaktion des Staates auf den russischen Einmarsch zeigt, dass auch auf staatlicher Seite erhebliche Handlungsspielräume bestehen, wenn der Druck groß genug ist.
Arbeit im Homeoffice gehört für zahlreiche VBG-Mitgliedsunternehmen und andere Firmen mittlerweile zum Alltag. Werden die neuen Erfahrungen das Arbeitsleben langfristig verändern?
Die Unternehmen haben dazugelernt. Die Krise hat bewiesen, dass vieles, was man nicht für möglich gehalten hat, funktioniert. Sie wissen jetzt, dass mobiles Arbeiten effektiv sein kann. Ein wichtiger Faktor dabei ist das Thema Kommunikation. Im Homeoffice muss viel standardisierter kommuniziert werden, per Mail zum Beispiel oder in Videokonferenzen, die formeller sind als Präsenzmeetings. Man fasst sich kürzer und kommt direkt auf den Punkt. Die zwischenmenschliche Komponente bleibt dabei auf der Strecke. Die Unternehmen werden sich darum kümmern müssen, dass die Kommunikation weiterhin funktioniert und dass es genug Formate gibt, in denen die Mitarbeitenden direkt zusammenkommen. Das ist wichtig für kreative Prozesse und hat auch mit Produktivität zu tun.
Hat das neue Arbeiten auch Auswirkungen auf die Führungskultur?
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben durch die räumliche Distanz mehr Freiräume; das bedeutet aber, dass sie genauere Vorgaben brauchen. Es wird stärker dazu kommen, dass Ziele definiert werden und der Erfolg der Mitarbeitenden daran gemessen wird, inwieweit diese Ziele auch erreicht werden. Die Fragen, wie lange und wo gearbeitet wird, treten in den Hintergrund. Das steigert Verbindlichkeit und das Verantwortungsgefühl bei den Mitarbeitenden, braucht aber Zuverlässigkeit von beiden Seiten.
Wie wird die Digitalisierung die Geschäftsmodelle des Mittelstands verändern?
In der Krise haben viele Unternehmen auf die neuen Herausforderungen reagiert und dafür gesorgt, dass die Wirtschaft weiterlief. Die Digitalisierung hat es ermöglicht, dass betriebliche Abläufe umgestellt und Mitarbeitende ins Homeoffice geschickt werden konnten.
Das ging nicht in allen Branchen. Dennoch wirkt sich die Digitalisierung auf alle Branchen aus, alle Unternehmen sind davon betroffen. Sie spielt selbst bei vergleichsweise kleinen Dienstleistungen eine immer größere Rolle. Nehmen Sie eine Pizzeria: Sie bestellt Waren auf digitalen Plattformen, stellt dort Mitarbeitende ein. Im Internet werden Tische reserviert oder Lieferservices bestellt.
Gerade kleinen KMU fehlt es manchmal an digitaler Kompetenz. Brauchen sie in dieser Hinsicht Unterstützung?
Neben der Bereitschaft zur Transformation brauchen vor allem die kleinen Unternehmen gute Rahmenbedingungen und einen fairen Wettbewerb. Dafür ist eine vernünftige Infrastruktur erforderlich. Wir brauchen tatsächlich ein schnelles und sicheres Internet bis zur berühmten letzten Milchkanne. Darüber hinaus müssen die Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass auch kleine Unternehmen in einem funktionierenden Wettbewerb gegen globale Unternehmen bestehen können. Zu Informationsmöglichkeiten und zum Austausch können Kammern und Verbände beitragen, genauso wie Politik und Verwaltung. Die Förderinitiative Mittelstand 4.0 vom Bundeswirtschaftsministerium ist ein gutes Beispiel, wie man die Transformation in kleinen und mittelständischen Unternehmen unterstützen kann.
Ist Nachhaltigkeit schon heute ein Wettbewerbsvorteil? Wie wichtig ist das Thema für den Geschäftserfolg?
Unsere Gesellschaft ist für dieses Thema bereits sensibilisiert, durch Fridays for Future zum Beispiel, durch die Klimakrise oder durch eine bessere Informationslage über Produktionsbedingungen in anderen Ländern. Das hat das Konsumverhalten schon verändert und wird es weiter tun. Nicht von heute auf morgen, aber in einem stetigen Prozess. Zum anderen gibt es Unternehmen, die als Pioniere schon länger in dem Bereich agieren – wie der Versandhändler Otto zum Beispiel oder auch die Firma Tchibo, die sehr auf ihre Lieferketten achtet. Und auch der Gesetzgeber hat reagiert, durch Vorschriften für höhere Umweltstandards, durch Vorgaben für nachhaltige Lieferketten, durch die Bepreisung von CO2. Die Unternehmen müssen da genau hinschauen: Der Trend wird sich nicht mehr aufhalten lassen und wird auch in der Breite des Marktes ankommen.
In vielen Branchen ist der Fachkräftemangel ein immer größeres Problem. Wie können wir zur Entlastung beitragen?
Vor der Coronavirus-Krise war laut einer Umfrage der Handelskammer Hamburg der Fachkräftemangel mit 60 Prozent das größte Geschäftsrisiko. In der Krise ist die Zahl auf 45 Prozent zurückgegangen, steigt jetzt aber wieder an. Es bleibt für die Unternehmen also ein ganz wichtiges Thema. Dem Fachkräftemangel können wir nur durch einen Mix an Maßnahmen begegnen. Wir müssen die Einwanderung erleichtern, an der Integration arbeiten und dafür sorgen, dass die benötigten Fachkräfte kommen können und wollen. Ein anderer Aspekt ist, die Erwerbsbeteiligung zu erhöhen, dort wo sie noch dünner ist. Also Bedingungen schaffen, dass mehr Frauen tatsächlich Arbeit annehmen können – und mehr Menschen mit Handicap zum Beispiel. Und viele Unternehmen versuchen bereits, sich als attraktiver Arbeitgeber darzustellen. Sei es durch das Image, das sie sich geben, durch Sonderleistungen im Gesundheits- und Weiterbildungsbereich oder durch flexible Arbeitsbedingungen und Homeoffice.
Deutschland ist vielen Ländern für seine umfassenden Regelungen für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit ein Vorbild. Werden immer mehr Länder diesem folgen, oder sind diese Themen international gesehen von untergeordneter Bedeutung?
Wir sind sicherlich einer der Vorreiter in der Welt, was das Thema Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz angeht, und ich glaube, das ist eine Frage der wirtschaftlichen Entwicklung. Mit wachsendem Wohlstand treten diese Dinge stärker in den Vordergrund. Man muss auch sehen, dass zwischen guten Arbeitsbedingungen und Produktivität eine Wechselbeziehung besteht: Je besser die Bedingungen sind, umso höher ist die Produktivität. Es lohnt sich also, in diese Dinge zu investieren – allerdings nur bis zu einem gewissen Maße, weil sonst der Kostennachteil zu hoch wird. Notwendig ist also eine gesunde Balance, sonst kommt es zu Überregulierung, und es besteht die Gefahr, das Produktivitätswachstum einzuschränken. Beim Lieferkettengesetz dürfen wir nicht alles nur durch die deutsche Brille betrachten. Man kann deutsche Standards, die sich bei uns über lange Zeit entwickelt haben, nicht anderen Ländern und Regionen von heute auf morgen überstülpen. Man muss den Ländern zugestehen, auch ihren eigenen Weg zu finden.
Welche Empfehlungen geben Sie deutschen Unternehmerinnen und Unternehmern für das Jahr 2022? Welche weiteren Trends müssen sie beachten?
Über die Digitalisierung haben wir bereits gesprochen, die wird weiter in alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche vordringen. Das ist eine große Chance, solange sie Vorteile für Konsumentinnen und Konsumenten darstellt. Auf der anderen Seite schafft sie eine Abhängigkeit von Technologie. Wir haben gesehen, was es bedeutet, wenn das Internet mal ausfällt. Datenschutz ist ein riesiges Thema, Hackerangriffe haben gezeigt, wie verwundbar die digitale Infrastruktur sein kann.
Ein anderer Trend sind geopolitische Veränderungen. Mit dem anhaltenden Aufstieg Chinas erleben wir eine Verschiebung der Machtverhältnisse in Richtung Osten. Die Blockade des Suezkanals durch die Ever Given und ihre Folgen für die Weltwirtschaft haben im Übrigen gezeigt, wie anfällig die globale Infrastruktur sein kann. Solche Entwicklungen werden das Risikobewusstsein der Unternehmen stärker schärfen und dazu führen, dass sie diversifizieren und sich breiter aufstellen, um die Resilienz zu erhöhen. Unternehmen werden sich mehrere Optionen für Zulieferung und Produktion, aber auch Absatzwege offenhalten.
Auch die Neo-Ökologie mit mehr Druck zu Nachhaltigkeit wird als Trend wichtiger. Die Menschen ändern ihr Konsumverhalten, die Krisen werden offenkundiger und spürbarer, und auch der Gesetzgeber reagiert auf diese Veränderungen. Ich meine auch, bei Gesprächen mit Unternehmerinnen und Unternehmern ein verstärktes Bewusstsein dafür festzustellen, selbst einen Beitrag dafür zu leisten, dass die Welt ein bisschen besser wird.
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