Frau Dr. Roscher, was verbirgt sich hinter dem Begriff „erweiterte Erreichbarkeit“?
Erweiterte arbeitsbezogene Erreichbarkeit ist definiert als die Erwartung, auch außerhalb der regulären Arbeitszeiten und Arbeitsorte für Führungskräfte, Kundinnen und Kunden sowie Kolleginnen und Kollegen erreichbar zu sein und für Arbeitsaufträge zur Verfügung zu stehen.
Wie ist diese erweiterte Erreichbarkeit aus Arbeitsschutzperspektive zu bewerten?
Erweiterte Erreichbarkeit hat das Potenzial, sich negativ auf die Gesundheit von Beschäftigten auszuwirken, und sollte daher so gut es geht vermieden werden. Dort, wo sie potenziell auftritt, gilt es, sie aktiv zu gestalten und die Beschäftigten so zu entlasten.
Wie genau kann sich erweiterte Erreichbarkeit negativ auf die Gesundheit auswirken?
Studien haben drei Wirkmechanismen identifiziert: Zum einen die schlichte Mehrarbeit. Wird man abends nach Feierabend angerufen und muss Überstunden machen, kann sich das an sich schon negativ auswirken. Dazu kann dann noch eine reduzierte Erholung kommen. Das Arbeitszeitgesetz schreibt nicht ohne Grund elf Stunden Erholungszeit vor. Wir wissen aus der Forschung, dass man die braucht, um wieder leistungsfähig zu sein. Bei dauerhaften Kürzungen der Ruhezeit ist von einem erhöhten Risiko für die körperliche und psychische Gesundheit sowie für Unfälle auszugehen. Der dritte Wirkmechanismus ist das Verschwimmen der Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben. Ruft beim Abendbrot mit der Familie der Chef an, kann das Stress und potenzielle Konflikte bedeuten.
Es ist für Unternehmen wichtiger denn je, sich mit dem Thema erweiterte Erreichbarkeit zu beschäftigen.
Hat sich die Erreichbarkeit seit der Coronapandemie und dem damit verbundenen Trend zur hybriden Arbeit verändert?
Zumindest die Möglichkeit für mehr erweiterte Erreichbarkeit ist gestiegen, da mehr Menschen mit mobilen Endgeräten ausgestattet sind. Dadurch verfügen sie über die technischen Voraussetzungen, auch in der Freizeit erreichbar zu sein. Deshalb ist es für Unternehmen wichtiger denn je, sich damit zu beschäftigen.
Was können Unternehmen denn tun?
Der erste Schritt besteht darin, zu prüfen, ob erweiterte Erreichbarkeit überhaupt ein Thema im Unternehmen ist. Dann sollte man schauen, wo sie sich vermeiden lässt. Sie ist nämlich oft gar nicht nötig, wenn Arbeitsabläufe gut gestaltet sind. Zum Beispiel mit klaren Vertretungsregelungen oder eindeutigen Teamabsprachen. Ist etwa für einen Kunden eine potenzielle Erreichbarkeit zwischen 18 und 20 Uhr notwendig, muss geklärt werden, wer das wann übernimmt. Dafür muss nicht das ganze Team im Stand-by-Modus sein. Hier spielt auch die empfundene Notwendigkeit der Erreichbarkeit eine Rolle: Wird der Sinn dahinter erkannt, verringert dies die Belastung.
Klingt gar nicht so kompliziert.
Nicht, wenn man sich damit beschäftigt. Häufig bilden sich in Unternehmen aber unausgesprochene Regeln aus. Fragt man Führungskräfte, bekommt man oft die Antwort, dass sie erweiterte Erreichbarkeit nie angeordnet hätten. Beschäftigte dagegen antworten häufig: „Das machen doch alle so.“ Wenn ein Vorgesetzter abends eine Mail schreibt, erwartet er aber nicht zwangsläufig, dass man die auch noch am Abend beantwortet. Das ist eine wichtige Stellschraube: im Unternehmen aufzudecken und klar zu kommunizieren, was erwartet wird und was nicht. Und dazu explizite Vereinbarungen zu treffen.
Die wahrgenommene Erreichbarkeitserwartung bei den Beschäftigten ist oft viel höher als die tatsächliche Erwartung der Führungskräfte.
Führungskräften kommt hier also eine besondere Bedeutung zu?
Definitiv. Die Kommunikation der eigenen Erwartungen ist das eine. Eine Führungskraft erzählte mir einmal, in ihrem Abbinder stehe, dass sie keine Antwort am selben Tag erwarte, wenn sie nach Feierabend E-Mails schreibt. Das ist ein schönes Beispiel für solch eine Kommunikation. Führungskräfte können aber auch mit gutem Vorbild vorangehen und klarstellen, dass auch sie nach Feierabend oder im Urlaub nicht kontaktiert werden möchten. Auch dieses Vorleben empfinde ich als wesentlichen Faktor, denn das Team schaut auf die Führungskraft.
Nun lässt sich erweiterte Erreichbarkeit nicht immer vermeiden. Welche Stellschrauben gibt es noch, um negative Folgen zu minimieren?
Beschäftigte können besser damit umgehen, wenn sie beeinflussen oder zumindest vorhersehen können, ob und wann sie potenziell kontaktiert werden. Denn allein die – vielleicht sogar unbegründete – Erwartung, dass dies passiert, kann sich negativ auf die Gesundheit auswirken. Steuerbarkeit und Vorhersehbarkeit der erweiterten Erreichbarkeit können sogar positive Effekte mit sich bringen.
Welche sind das?
Etwa Flexibilitätsvorteile, durch die sich Dinge besser miteinander vereinbaren lassen. Die sollten in den Regelungen zur Erreichbarkeit auch nicht abgewürgt werden. Angenommen, ich muss um vier in der Kita sein, mit einem Kollegen, der in einem längeren Meeting ist, aber noch etwas Wichtiges besprechen. Dann kann ich trotzdem Feierabend machen und ihm anbieten, mich zum Beispiel noch bis sieben anzurufen. Das kann uns beide entlasten. Dazu gehört dann aber auch zu sagen: Danach bitte nicht mehr! Das meine ich mit Gestaltung von Erreichbarkeit.
Was können Beschäftigte noch selbst tun?
Merken Beschäftigte, dass sich erweiterte Erreichbarkeit einschleicht, oder dass sie bereits praktiziert wird und sie stresst, sollten sie das bei ihrer Führungskraft ansprechen. Kommunikation ist das A und O – und sollte von beiden Seiten erfolgen. Aber die Verantwortung dafür, gesunde Rahmenbedingungen zu setzen, liegt klar beim Unternehmen. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen müssen Beschäftigte dann aber auch selbst ihre eigenen Grenzen ziehen und diese einhalten.
Weitere Informationen dazu, wie Erreichbarkeit sicher und gesund gestaltet werden kann, finden Sie hier. Die kostenfreie Publikation „Erweiterte Erreichbarkeit – Gut gestaltet im Betrieb“ hilft Ihnen zudem dabei, Probleme im Zusammenhang mit der erweiterten Erreichbarkeit zu erkennen, zu verstehen und anschließend Lösungen für Ihr Unternehmen zu gestalten.
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