Frau Kohl, seit 2014 sind Arbeitgebende gesetzlich dazu verpflichtet, „bei psychisch belastenden Faktoren im Sinne der Beschäftigten vorzubeugen“. Was genau ist hiermit gemeint?
Unter psychischer Belastung verstehen Arbeitswissenschaftlerinnen und Arbeitswissenschaftler alle Faktoren, die beruflich von außen auf den Menschen zukommen und das Denken und Fühlen beeinflussen. Ungünstig gestaltete Einflüsse können dabei kritische individuelle Auswirkungen hervorrufen, wie Stress oder Monotonie bis hin zu Schlafstörungen oder Erkrankungen. Unternehmerinnen und Unternehmer sind daher verpflichtet, Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass Beschäftigte auch psychisch gesund bleiben. Sie müssen sich alle Einflussfaktoren anschauen und geeignete Maßnahmen umsetzen.
Was sind Ihrer Ansicht nach die größten Risiken?
Aus wissenschaftlichen Studien wissen wir, dass eine zu hohe Arbeitsintensität zu negativen gesundheitlichen Auswirkungen führt. Wenn ich zum Beispiel keine Verschnaufpause mehr habe, sondern durchweg von einem Termin zum nächsten hetze und das Pensum einfach nicht mehr schaffe. Auch eine ungünstig gestaltete Arbeitszeit kann belasten, vor allem wenn sie nicht selbstbestimmt ist. Fehlende Handlungsspielräume spielen eine große Rolle. Wenn ich unter hohem Druck wenig eigenverantwortlich arbeiten kann, führt das, so zeigen es Studien, auch zu negativen Auswirkungen. Besonders belastend ist es, wenn es im Kollegium knirscht oder das Verhältnis zur Führungskraft nicht stimmt.
Warum belasten uns zwischenmenschliche Konflikte auf der Arbeit so stark?
Weil wir im Team häufig auf kollegialen Austausch und eine funktionierende Kommunikation angewiesen sind, um Ziele zu erfüllen. Außerdem sind wir soziale Wesen und orientieren uns an anderen. Ein gutes Betriebsklima hat eine ganze Reihe von Vorteilen: Eine positive Arbeitsatmosphäre trägt dazu bei, dass die Beschäftigten gern zur Arbeit kommen. Sie sind zufriedener und motivierter und damit häufig auch kreativer und innovativer.
Was können Unternehmerinnen und Unternehmer für ihre Präventionskultur im Unternehmen tun?
Eine gute Präventionskultur ist gekennzeichnet durch einen hohen Stellenwert von Sicherheit und Gesundheit in der Unternehmenskultur und im täglichen Tun. Unternehmerinnen und Unternehmer können sich im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung nach dem Arbeitsschutzgesetz systematisch ein Bild von ihrem Unternehmen machen und gezielt kritisch ausgeprägte Arbeitsbedingungen und Prozesse optimieren. Essenziell sind beispielsweise gute Kommunikationsprozesse, gesunde Führung, die Beteiligung der Beschäftigten und die Förderung guter sozialer Beziehungen. Sie unterstützen dabei, dass die Beschäftigten langfristig psychisch und körperlich gesund arbeiten können.
Aus wissenschaftlichen Studien wissen wir, dass eine zu hohe Arbeitsintensität zu negativen gesundheitlichen Auswirkungen führt.
Wie können Führungskräfte konkret unterstützen?
Sie sollten sich immer wieder bewusst machen, wie wichtig es für Beschäftigte ist, dass sie Unterstützung und Rückendeckung erhalten. Mit jedem Einzelnen im Gespräch zu bleiben und wertschätzend zu kommunizieren ist enorm wichtig. Dann stehen Beschäftigte auch weit besser belastende Situationen durch. Führungskräfte sollten außerdem, was ihr Verhalten betrifft, selbst Vorbild sein.
Können Sie hier ein Beispiel nennen?
Nehmen wir das Thema Erreichbarkeit. Wenn eine Führungskraft an einem Sonntagabend noch E-Mails schreibt und Beschäftigte dafür lobt, wenn sie darauf antworten, dann neigen die meisten dazu, dies auch weiter zu tun und Überstunden zu machen. Gleiches gilt für die Erreichbarkeit im Urlaub. Es geht aber auch um kleine Dinge. Ich kann Obstkörbe anbieten statt einer Box mit Schokoriegeln. Ich kann Sport in den Pausen erlauben. Solche Dinge bewirken viel für die psychische Gesundheit. Außerdem wird heute mehr Verantwortung auf die Beschäftigten übertragen. Früher diktierte – ganz platt gesagt – der Chef oder die Chefin die To-do-Liste. Heute geht es eher um eigenverantwortliches Arbeiten.
Wie gelingt es, Beschäftigte zu mehr Eigenverantwortung zu motivieren, aber nicht zu überfordern?
Führen über Ziele kann helfen. Diese müssen aber realistisch und anpassbar sein. Vorgesetzte sollten sie mit den Beschäftigten gemeinsam festlegen und darüber sprechen, wie diese Ziele erreicht werden und wo sie selbst unterstützen können.
Wie erkennen Führungskräfte psychisch beeinträchtigte Beschäftigte?
Indem sie genau hinschauen und mit den Beschäftigten im Gespräch bleiben. Eine veränderte Arbeitsweise oder starke Leistungsschwankungen können Anzeichen sein. Auch ein verändertes Verhalten gegenüber dem Kollegium oder ständiges Kontrollieren ausgeführter Aufgaben sind oft Warnsignale. Bei zunehmender Unzuverlässigkeit, andauernder Traurigkeit, sozialem Rückzug, verstärkter Aggressivität oder vernachlässigter Hygiene sollten Führungskräfte unbedingt das Gespräch suchen.
Mit jedem Einzelnen im Gespräch zu bleiben und wertschätzend zu kommunizieren ist enorm wichtig.
Wie spreche ich so etwas an?
Auf gar keinen Fall eine Diagnose formulieren, so nach dem Motto: „Ich glaube, du hast eine Störung.“ Ratsam ist es, in einem vertrauensvollen Vieraugengespräch zu schildern, welche Veränderungen im Verhalten wahrgenommen wurden und welche Auswirkungen diese im Arbeitskontext haben. Hier kann auch Besorgnis zum Ausdruck gebracht werden. Die konkreten Gründe können in der Arbeit liegen, zum Beispiel in Form von anhaltender Überlastung aufgrund von Personalmangel. Auch private Probleme spielen häufig eine Rolle, wie eine Scheidung oder ein anderer Schicksalsschlag. Auch hier hilft ein offenes Gespräch, um gemeinsam zu schauen, wie die Führungskraft unterstützen kann. Vorgesetzte haben die Möglichkeit, auf inner- und außerbetriebliche Anlaufstellen zu verweisen, und sie können sich Unterstützung bei Betriebsärzten und -ärztinnen, Personalverantwortlichen oder sozialen Beratungsstellen holen.
Wie kann nach einer psychischen Erkrankung die Rückkehr einer oder eines Betroffenen im Unternehmen erleichtert werden?
Es ist wichtig, für den Ernstfall einen Prozess des Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) zu haben – das heißt, sich zu überlegen, wie ich erkrankte Beschäftigte nach ihrer Genesung gut wieder zurück an den Arbeitsplatz begleiten kann. Ein Rückkehrgespräch ist dabei essenziell. Betroffene brauchen zudem das Gefühl, mitbestimmen zu können. Sie sollten Vorstellungen und Wünsche zu Tätigkeit, Arbeitszeit und sozialem Miteinander äußern. In manchen Fällen macht ein Arbeitsplatzwechsel innerhalb des Unternehmens Sinn. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls bei psychisch erkrankten Beschäftigten nach neun bis elf Monaten am wahrscheinlichsten ist. Das zeigt, dass Reintegration ins Team langfristig beobachtet werden muss und Schwierigkeiten oder eine Verschlechterung des Gesundheitszustands sofort angesprochen werden müssen.
Wie man für eine gute Kultur im Unternehmen sorgt, erfahren Unternehmerinnen und Unternehmer hier.
Solide Partnerschaft
Mit der „Offensive Psychische Gesundheit“ schafft das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) ein breites Bündnis für mehr Offenheit im Umgang mit psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz. Die VBG ist hier ein wichtiger Partner, auch dank der Erfahrungen aus der Kampagne kommmitmensch, die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen ins Leben gerufen haben. Initiatorinnen und Initiatoren rücken Menschen in Betrieben und Unternehmen in den Fokus und geben wichtige Tools an die Hand, um präventiv die besten Maßnahmen umzusetzen. www.offensive-psychische-gesundheit.de
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