Agiles Arbeiten ist vor allem dort sinnvoll, wo komplexe Aufgaben vorherrschen und häufig neue, sich ändernde Anforderungen an die Teammitglieder gestellt werden. Um mit derartigen Situationen umzugehen, haben sich bestimmte Methoden und Vorgehensweisen als praktikabel erwiesen. Diese Kernmerkmale des agilen Arbeitens sind aber nicht per se positiv. Vielmehr kommt es auf ihre Ausgestaltung an, möchte man die Arbeit insgesamt gesundheitsförderlich organisieren. Certo fasst die Chancen und Risiken dieser Kernmerkmale zusammen:
1. Iteratives Vorgehen: Risikominimierung vs. Unsicherheit
Iterativ heißt, sich im Arbeitsprozess in kurzen Entwicklungszyklen vorzutasten, anstatt von Beginn an einen finalen Plan zu verfolgen. Vorteil: Das Vorgehen bietet eine Früherkennung kritischer Verläufe und ermöglicht schnelle Anpassungen. So werden Vorhaben effektiver und gesünder, Projektrisiken werden minimiert und Zeitdruck durch kurzfristige Änderungen kurz vor Projektschluss wird vorgebeugt. Risiko: Die Unsicherheit darüber, was als Ergebnis entsteht und wie der Entwicklungsprozess aussieht, kann vor allem Kundinnen und Kunden verunsichern. In der Praxis wird dies durch den Kundeneinbezug in den Entwicklungsprozess kompensiert.
2. Kundenverbindung: Feedback vs. Unterbrechungen
Kundinnen und Kunden werden beim agilen Arbeiten eng in den Arbeitsprozess einbezogen und können nach jeder Entwicklungsstufe Zwischenergebnisse begutachten. Für das Team kann das ein wertvolles Feedback sein, aber von Kundinnen und Kunden auch so interpretiert werden, dass jederzeit in den Arbeitsprozess eingegriffen werden kann. Wichtig: Es dürfen zwar neue Ideen und Anforderungen eingebracht werden, die Steuerung wird jedoch durch Träger der agilen Rollen vorgenommen. Passiert das nicht, wird das Team gegebenenfalls im Arbeitsprozess unterbrochen und muss sich auf wechselnde Anforderungen einstellen. Dies kann bei ungünstiger Kommunikation zu erlebten Widersprüchen und zusätzlicher Belastung führen.
3. Autonomie und Verantwortung: Lernmöglichkeiten vs. Überforderung
Agiles Arbeiten beinhaltet hohe Freiheitsgrade in der Arbeitsorganisation und -gestaltung. Dies kann Selbstwertgefühl und Verantwortungsbereitschaft stärken und bietet wichtige Lernmöglichkeiten. Gleichzeitig droht die Gefahr, sich in Überlastungssituationen zu begeben: Bedeutet Autonomie, unvorteilhafte Arbeitsbedingungen selbst neu zu gestalten, birgt sie Risiken. Werden Teams in der Arbeitsgestaltung allein gelassen, können sie sich in ungesunde Situationen bringen, wenn etwa Smartphones dazu führen, dass man immer erreichbar ist, oder man sich zu viele Aufgaben in zu knapper Zeit vornimmt. Man spricht hier von „Interessierter Selbstgefährdung“.
4. Transparenz: Anerkennung vs. Konflikte im Team
Das Prinzip der empirischen Steuerung, also der steten Anpassung der Arbeitsweise auf Grundlage von Erfahrungen, macht eine Visualisierung von Status, anfallenden und erledigten Aufgaben nötig. Dazu werden oft Kanban-Boards verwendet, die regelmäßig aktualisiert und besprochen werden. Wenn bei einer Aufgabe Schwierigkeiten auftreten, sollte das vom Team benannt und eine Problemlösung angestoßen werden. Diese Transparenz eigener Arbeitsergebnisse kann dazu führen, dass Teammitglieder Anerkennung erfahren. Bei fehlender Vertrauenskultur kann es aber auch zum Gefühl führen, kontrolliert zu werden, oder es können bestehende, latente Konflikte im Team hervorbrechen.
5. Meeting-Routinen: Soziale Unterstützung vs. soziale Kontrolle
Beim agilen Arbeiten gibt es meist klare Vorgaben, wann sich Teams mit wem und zu welchem Zweck treffen: Bei der agilen Methode Scrum trifft sich das Team etwa zum Sprint Planning für die Organisation von Aufgaben und zur Retrospektive für die Reflexion der Zusammenarbeit, um künftig Über- und Unterforderung vorzubeugen. Soziale Unterstützung findet dann statt, wenn im Meeting Behinderungen des Arbeitsprozesses bearbeitet werden. Die dazu nötige Transparenz kann aber auch zum Gefühl führen, kontrolliert zu werden. Meetings werden vor allem dann als Rapport erlebt, wenn das Versprechen sozialer Unterstützung nicht eingelöst wird, etwa weil das Rollenverständnis der Führungskräfte nicht mit dem des Teams übereinstimmt.
6. Visualisierung: Kognitive Unterstützung vs. Zusatzaufwand
Organisieren Teams ihre Aufgaben selbst, benötigen sie Mittel zur Planung wie zum Beispiel (virtuelle) Kanban-Boards: Aufgaben werden per Post-its in Spalten sortiert und Teammitgliedern zugeordnet. Das Planen der Arbeit auf einem gemeinsamen Medium wirkt kognitiv unterstützend: Alle Teammitglieder wissen über Stand und Zuständigkeit der Aufgaben Bescheid. Es benötigt aber auch Disziplin, die eigene Planung auf dem Board aktuell zu halten – und das Vertrauen darin, dass alle anderen das auch tun. Das kann sich wie zusätzlicher Aufwand anfühlen. Letztlich ist das Erleben auch eine Frage des Mindsets der Organisation und der klaren Nutzenkommunikation.
7. Definierte Rollen: Rollenklarheit vs. Rollenkonflikte
Die meisten agilen Methoden setzen auf klar definierte Rollen, wie etwa Team, Product Owner und Scrum Master oder Agile Coach. Der Nutzen für das Team: Es ist klar geregelt, von wem und wie Prioritäten festgelegt und zum Beispiel Kundenanforderungen in das Projekt eingebracht werden. Das Team kann sich voll auf seine Arbeit konzentrieren. In der Praxis werden die Rollen zuweilen vermischt, was oft zu Konflikten führt. Manchmal wird beispielsweise ein Agile Coach aus dem Team heraus rekrutiert und agiert dann in einer Doppelrolle: Er ist Mitglied des Teams, das er unterstützen soll. Das fördert Betriebsblindheit und untergräbt die Glaubwürdigkeit seiner Interventionen.
8. Selbstorganisierte Teams: Selbstermächtigung vs. Gruppendruck
Selbstorganisation im Team bewirkt Gefühle von Autonomie und Verantwortungsbewusstsein. Ungünstige Voraussetzungen und unrealistische Erwartungen können aber dazu führen, dass Teammitglieder sich darin überbieten, wer das größte Pensum erledigen kann. In der Arbeitsplanung wird dann von Best-Case-Annahmen ausgegangen. Das Überschätzen der eigenen Leistungsfähigkeit und fehlendes Feedback können zudem bewirken, dass Einzelne Aufgaben übernehmen, für die sie nicht ausreichend qualifiziert sind. Mögliche Folgen: Überforderung und schlechte Arbeitsergebnisse. Erkennt man Anzeichen für unrealistische Planungen, gilt es, korrigierend einzugreifen.
9. Selbstorganisierte Teams: Nachhaltiges Tempo vs. Zeitdruck
Ein Resultat der Lernfähigkeit und der Selbstorganisation von Teams ist die zunehmend realistischere Zeit- und Aufgabenplanung. Ist eine Arbeitsphase abgeschlossen, wird im Team reflektiert, wie gut die Schätzung von Aufwand und Komplexität funktioniert hat. Wenn aber wegen Zeitnot an Reflexionsschleifen gespart wird, ist der Lernprozess unterbrochen. Gerade Teams, die das Gefühl haben, sich beweisen zu müssen, erkennen ihre unrealistischen Planungen oft nicht und halten an Best-Case-Annahmen fest. Das kann zu hohem Stresserleben aufgrund von Zeitdruck führen.
Digitale Roadmap „Gesund agil arbeiten“
Ob erfahrene Anwender oder interessierte Einsteigerinnen: Unternehmen, die auf eine gesunde Gestaltung der agilen Arbeit achten möchten, bietet die VBG mit der Roadmap „Gesund agil arbeiten“ eine praktische Hilfestellung. Aus dem Forschungsprojekt „Agiles Arbeiten – flexibel, gesund, erfolgreich“, das die VBG gemeinsam mit der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) und der GITTA mbH durchgeführt hat, wurde ein modular aufgebautes Angebot entwickelt. Dieses können Interessierte eigenständig durchführen. Das Programm umfasst sowohl Konzepte für Workshops als auch Handlungsempfehlungen für den betrieblichen Einsatz. Die Angebotspalette reicht von der Einführung agiler Methoden bis zur gesunden Ausweitung des agilen Arbeitens im Unternehmen. Ein Modulnavigator hilft den Anwendenden dabei, herauszufinden, welches Angebot für sie passt. Alle Infos zur neuen VBG-Roadmap finden Sie hier.
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