Frau Dr. Stempel, Sie sind wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin im Lehrgebiet Arbeits- und Organisationspsychologie an der FernUniversität Hagen und haben eine Studie zur Arbeit von zu Hause durchgeführt, haben darin Hunderte von Menschen befragt. Jetzt zunächst die Frage an Sie: Wie lässt sich das Homeoffice am besten untersuchen – aus dem Homeoffice oder aus dem Büro?
Dr. Christiane Stempel: Das ist eine gute Frage. Ich arbeite hauptsächlich von zu Hause aus, aber das ist auch der Pandemie geschuldet. Und das war auch der Anlass unserer Studie, weil das natürlich plötzlich Bedingungen waren, wie sie sonst nicht vorhanden sind. Im März 2020 sind so viele Leute wie noch nie durch die Pandemie aus dem Büro ins Homeoffice gewechselt. Es gibt keine vergleichbare Situation. Deswegen war das optimal, um so was zu untersuchen.
Für Sie war die Coronavirus-Pandemie aus wissenschaftlicher Sicht also eine Chance. Damals herrschte in der Arbeitswelt eine gewisse Euphorie im Hinblick auf das Homeoffice. Hat sich das auch in Ihren Befragungen gezeigt?
Ja, wir haben bis jetzt zwei Erhebungen realisiert, und gerade bei der ersten direkt Ende März 2020 freuten sich viele der etwa 700 Befragten über die neue Freiheit, sich die Aufgaben im Homeoffice flexibler einteilen zu können. Bei der zweiten Befragung von November 2020 bis Februar 2021 hat sich da schon einiges verschoben. Eine Ernüchterung ist eingetreten.
Ernüchterung inwiefern?
Die Befragten gaben zum zweiten Zeitpunkt an, dass sie deutlich erschöpfter sind. Emotionale Erschöpfung ist eine Facette von Burn-out. Und das hat wirklich signifikant zugenommen. Generell haben wir die Leute gefragt, was sie als die drei größten Vor- und Nachteile des Homeoffice sehen. Das hat sich erstaunlicherweise nicht so stark verändert. Also die Vorteile sind die Vorteile geblieben, nämlich so etwas wie, dass man mehr Flexibilität hat, Autonomie, sich den Tag zu gestalten, auch einen gewissen Zeitgewinn, der einfach durch das wegfallende Pendeln zustande kommt. Und dass man, wenn man ein eigenes Büro zu Hause hat oder einen eigenen Rückzugsort, ruhiger arbeiten kann als im Büro. Das haben viele als Vorteile genannt, und das hat sich kaum geändert über die Zeit.
Welche Nachteile wurden genannt?
Die Befragten vermissten den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, sowohl den formellen als auch den informellen. Das war natürlich ein riesiger Nachteil. Aber auch eine nicht ausreichende Ausstattung wurde als Nachteil oft genannt. Etwa, dass die Materialien nicht da sind, die Software nicht funktioniert, das Internet nicht schnell genug ist oder Ähnliches. Wir haben auch nach Arbeitsbedingungen gefragt, und die genannte soziale und emotionale Belastung hat zugenommen. Und damit ist nicht das gemeint, was jetzt im Konflikt etwa mit Familienangehörigen oder zu betreuenden Kindern auftritt, sondern soziale und emotionale Belastungen, die sich aus dem Job ergeben. Das hat über die Zeitpunkte zugenommen. Und von der von Ihnen angesprochenen Euphorie am Anfang war schon Ende 2020 nicht mehr viel übrig. Unsere Studie hat gezeigt: die wahrgenommene Arbeitsintensität hat zugenommen. Viele füllten den Zugewinn an Freiheiten und Pausen mit Arbeit und sind nun ernüchtert, weil die Arbeit mehr geworden zu sein scheint.
Also wird im Homeoffice tatsächlich mehr anstatt weniger gearbeitet?
Ja, das wissen wir auch aus anderen Studien zum Homeoffice: Menschen arbeiten zu Hause tatsächlich tendenziell mehr. Und das können pro Woche bis zu zweieinhalb Stunden mehr sein. Das haben auch schon Forschungsergebnisse vor der Pandemie gezeigt. Das hängt damit zusammen, dass die Schwierigkeit, sich von der Arbeit abzugrenzen, herausfordernd ist – für Arbeitnehmende ebenso wie für Führungskräfte. Das ist besonders dann ein Problem, wenn die Organisation vorher eben noch wenig Erfahrung mit Homeoffice hatte und solche Regeln, was von einem erwartet wird, wann man verfügbar sein muss, wann man nicht verfügbar sein muss, noch nicht aufgestellt hat. Und das führt dazu, dass einige Menschen eben komplett entgrenzen, also dass sie Schwierigkeiten haben, sich selbst diese Grenze zwischen Arbeit und Privatleben zu setzen.
Damit wären wir beim Thema Gesundheitsschutz beziehungsweise bei der „interessierten Selbstgefährdung“ angekommen. Sie haben es gerade angesprochen: Was wären denn Vorgaben, die helfen würden?
Es ist gut, wenn Unternehmen Richtlinien ausgeben, was denn wirklich von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gefordert ist, zum Beispiel hinsichtlich der Anwesenheit am Bildschirm oder der Arbeitszeit. Also richtig zu sagen „Wir haben hier Kernarbeitszeiten“ und diese zeitlich einzugrenzen. Am besten ist es, da in einen partizipativen Austausch zu gehen, gemeinsame Richtlinien zu entwickeln. Dabei sollte es auch Platz für Fragen geben, etwa: „Wenn mir meine Chefin, mein Chef abends eine E-Mail schreibt, muss ich unmittelbar darauf reagieren?“ Oder: „Mir fehlt der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, gibt es einen digitalen Ersatz?“ Oft ist es sinnvoll, informelle Räume zu schaffen, eine Art digitale Kaffeeküche.
Das sind konkrete Tipps für den Arbeitsalltag. Haben Sie in Ihrer Studie auch herausfinden können, was perspektivisch ein Modell für modernes Arbeiten sein könnte?
Viele der Befragten haben angegeben, dass sie sich ein 50:50-Modell wünschen, wobei es natürlich auch andere individuelle Wünsche gibt. 50 Prozent Arbeit im Büro, 50 Prozent Arbeit im Homeoffice. Sinnvoll ist, dass man in der Zeit, in der die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusammen sind, eben genau die erwähnten sozialen Aspekte berücksichtigt. Also dass man kreative Prozesse zum Austausch anregt, dass man das Miteinander fördert, wenn die Arbeit im Büro stattfindet, und das Homeoffice für Stillarbeit nutzt. Sinnvoll ist es auch, die Arbeitszeit im Büro für Onboarding-Prozesse zu nutzen, also Menschen, die neu ins Unternehmen eintreten, in die Gepflogenheiten der Firma einzuführen.
Das stellt Führungskräfte bei dem 50:50-Modell vor die Herausforderung, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in zwei ganz unterschiedlichen Arbeitsbedingungen und -umfeldern zu führen. Wie kann das gelingen?
Für Führungskräfte ist das eine große Herausforderung. Ich habe schon mehrere Rückmeldungen bekommen von Führungskräften, die gesagt haben, dass sie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Homeoffice richtig sagen müssen: „Mache bitte Pausen, die gehören zur Arbeit dazu.“ Wichtig ist, im Austausch zu bleiben und dadurch auch den Gesundheitsschutz gewährleisten zu können. Aus unserer Studie wissen wir: Dieser Balanceact bei der Arbeit im Homeoffice ist eine echte Zusatzaufgabe für Führungskräfte. Es ist daher besonders wichtig, dass Führungskräfte einen gewissen Handlungsspielraum haben, auch mal wirklich ohne Absegnung von ganz oben entscheiden zu können. Etwa einer Person mehr Zeit einzuräumen für ein Projekt oder Ähnliches.
Wie lautet also Ihr bisheriges Zwischenfazit?
Unsere Studie zeigt: Führungskräfte, die viele Ressourcen haben, führen deutlich gesundheitsfördernder. Ressourcen können neben mehr Entscheidungsspielraum auch finanzielle Anreize, bessere Ausstattung oder eben soziale Unterstützung sein. Manchmal ist es schon hilfreich, wenn die Führungskräfte genug Zeit haben, um auf spezifische Probleme der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzugehen – im Büro ebenso wie im Homeoffice. Ich habe den Eindruck, dass viele Unternehmen und Organisationen sich durch die Pandemie wirklich intensiv mit dieser Thematik auseinandersetzen. Deshalb bin ich optimistisch, dass sich die Arbeitswelt in Zukunft verbessert.
Initiative Mitdenken 4.0
Indirekte Steuerung, Erreichbarkeit und Homeoffice sind Schwerpunktthemen im Rahmen der Initiative Mitdenken 4.0.
Veröffentlicht am