Frau Dr. Keller, die VBG hat eine digitale Roadmap zur Ausgestaltung agiler Arbeitsformen entwickelt. Was hat Sie als gesetzliche Unfallversicherung dazu bewogen?
Wir haben festgestellt, dass das Thema agiles Arbeiten bei unseren Mitgliedsunternehmen eine immer größere Rolle spielt. Da ändert sich also etwas. Die VBG begleitet den Wandel der Arbeitswelt und unterstützt die Mitgliedsunternehmen mit Präventionsangeboten. Wichtig ist uns: Wenn Unternehmen agil arbeiten, sollen sie es auch gesund tun. Das war unser Antrieb. Als wir das Forschungsprojekt, aus dem die Roadmap entstanden ist, vor drei Jahren starteten, wussten wir selbst nicht so genau, ob agiles Arbeiten nun eher gesundheitsförderlich oder schädlich ist. Dazu gab es zu diesem Zeitpunkt kaum Untersuchungen.
Das Forschungsprojekt hat die VBG gemeinsam mit der Fachhochschule Nordwestschweiz und der GITTA mbH durchgeführt. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Zunächst haben wir Literaturrecherche betrieben und Workshops mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Beratung sowie betrieblichen Praktikerinnen und Praktikern durchgeführt, um herauszufinden, worauf man beim agilen Arbeiten hinsichtlich potenzieller Auswirkungen auf die Gesundheit achten muss. Darauf aufbauend haben wir ein Interventionsprogramm entwickelt und uns Betriebe gesucht, mit denen wir das Programm erproben und weiterentwickeln konnten.
Wie sah das aus?
Wir sind zum Beispiel in agil arbeitende Teams gegangen und haben nachgefragt: Was läuft gut bei der Umsetzung, was weniger? Andere Unternehmen waren unsicher, ob agiles Arbeiten das Richtige für sie ist. Für die haben wir Methoden entwickelt, mit denen man genau das herausfinden kann. Denn eins ist klar: Wenn agiles Arbeiten nicht zum Unternehmen passt, kann es auch nicht gesundheitsförderlich sein. So ist schließlich ein ganzes Angebotspaket für verschiedene Fragestellungen entstanden.
„Die modulare digitale Roadmap bietet passende Hilfestellungen für unterschiedliche Ausgangssituationen.“
Wie kann ich als Unternehmen dieses neue Angebot der VBG in Anspruch nehmen?
Wir haben die Ergebnisse des Forschungsprojekts als nutzerfreundliches Online-Tool aufbereitet. Diese modulare digitale Roadmap ist so aufgebaut, dass Unternehmen komplett selbstständig loslaufen können. Ist ein wenig Vorwissen zum agilen Arbeiten vorhanden, bietet das Tool passende Hilfestellungen für unterschiedliche Ausgangssituationen. Wer sich das alleine nicht zutraut, kann sich aber auch an die VBG wenden. Wir haben in unseren Bezirksverwaltungen Arbeitspsychologinnen und Arbeitspsychologen, die Unternehmen hier unterstützen können.
Bei welchen Fragestellungen hilft mir als interessierter Betrieb das Online-Tool, was finde ich dort?
Das Kernstück sind drei Module mit Workshopkonzepten und Handlungsempfehlungen zur Durchführung im Betrieb. Das erste richtet sich an Unternehmen, die noch nicht agil arbeiten. Die stehen vor der Herausforderung, ob agiles Arbeiten überhaupt zu ihnen passt oder wie sie es gesund einführen können. Das zweite Modul richtet sich an Betriebe, die schon agil unterwegs sind. Diese können zum Beispiel in einem Workshop erarbeiten, was gut läuft und was nicht, oder Rollen und Aufgaben in den Teams optimieren. Alles immer vor dem Hintergrund des gesunden Arbeitens. Hier können Unternehmen auch herausfinden, wie sie das, was sie in ihrer Gefährdungsbeurteilung eventuell bereits herausgearbeitet haben, mit agilem Arbeiten verbinden können. Im dritten Modul geben wir Handlungsempfehlungen dazu, wie Unternehmen, die beispielsweise aktuell einen einzigen agil arbeitenden Bereich haben, dies auf weitere Organisationseinheiten ausweiten können.
Und wie finde ich das richtige Modul und die passenden Workshops für mein Unternehmen?
Dafür haben wir einen Modul-Navigator entwickelt, durch den man sich klicken kann. Beginnend mit der Frage, ob man bereits agil arbeitet oder sich erstmal nur dafür interessiert. Weiter geht es mit der Frage, was man mit der Roadmap eigentlich herausfinden möchte. Das wäre dann beispielsweise, ob sich agile Arbeitsformen überhaupt eignen, wie man sie gesund einführen oder künftig gesünder und besser gestalten kann. Je nachdem, was das eigene Ziel und die eigenen Voraussetzungen sind, werden dann die passenden Workshops empfohlen.
Die ich dann selbstständig in meinem Unternehmen durchführen kann…
Richtig. In den Modulen finden sich detaillierte Angaben zu allen Workshops. Das fängt mit dem Einstieg an: Was sind die Ziele des Workshops? Für welche betriebliche Ausgangslage eignet er sich? Weiter geht es mit einem genauen Ablaufplan, mit dem man den Workshop geleitet durchführen kann. Man erhält auch einen Moderationsplan und Präsentationsfolien. Das lässt sich natürlich alles individuell anpassen. Unternehmen bekommen hier aber eine Blaupause zur selbstständigen Durchführung der Workshops, eine Art Rundumpaket.
„Agiles Arbeiten ist nicht per se positiv oder negativ. Es kommt auf die Gestaltung an.“
Kommen wir noch einmal zurück zur Ausgangsfrage: Können Sie ein Beispiel dafür nennen, wie sich agiles Arbeiten positiv oder negativ auf die Gesundheit auswirken kann?
Wir haben insgesamt acht Kernmerkmale des agilen Arbeitens und deren Chancen und Risiken identifiziert. Eines davon ist das iterative Vorgehen. Also dass man ein Projekt nicht von A bis Z auf Jahre durchplant, sondern in kurzen Zyklen immer wieder schaut, ob man auf dem richtigen Weg ist. Positiv daran ist, dass man schnell Feedback erhält und das Risiko minimiert, in die falsche Richtung zu laufen, um am Ende total frustriert dazustehen. Auf der anderen Seite steht das Risiko, nicht genau zu wissen, was bei dem Projekt am Ende herauskommt. Und dies entsprechend dem Kunden vielleicht nicht so gut vermitteln zu können. Das ist eine Belastung, die muss man aushalten können.
Agiles Arbeiten zeichnet sich durch selbstbestimmtes Arbeiten im Team aus. Worauf muss man da beispielsweise achten?
Eines der Kernmerkmale, das eine große soziale Komponente beinhaltet, sind Meetingroutinen. Tägliche oder wöchentliche Meetings sind eigentlich super: Man tauscht sich schnell aus, hat die Infos, an was die anderen gerade arbeiten. Wenn man nicht weiterweiß, kann man sich Unterstützung holen. Das bietet eine echte Chance. Wenn aber auf der anderen Seite das Klima im Team nicht stimmt oder jemand introvertierter ist, empfindet er das vielleicht als soziale Kontrolle. Grundsätzlich lässt sich also nicht sagen, dass die Kernmerkmale des agilen Arbeitens per se positiv oder negativ sind. Es kommt auf die Gestaltung an.
Damit befinden wir uns auf der Praxisebene. Wie sieht es eine Ebene höher aus: Welche Rahmenbedingungen ermöglichen gesundes agiles Arbeiten überhaupt erst?
Da gibt es im Wesentlichen vier wichtige Bereiche. Man kann sich das wie einen Baum vorstellen: Entscheidend ist das Wurzelwerk. Es nützt nichts, die Kernelemente des agilen Arbeitens in Richtung Chance zu entwickeln, wenn die Basis nicht stimmt. Es muss Vertrauen im Unternehmen da sein, Offenheit. Das Prinzip der Selbstorganisation muss gelebt werden. Auch eine positive Fehlerkultur gehört zum agilen Arbeiten dazu. Das ist die Basis. Wichtig ist zudem der Zweck. Warum sollte man überhaupt agil arbeiten? Weil es alle machen, ist hier als Antwort zu wenig.
Sie sprechen hier auch von einer „achtsamen Organisation“.
Genau, das ist ein weiterer Bereich. Das bedeutet: Wenn man agiles Arbeiten einführt, kann man das nicht von heute auf morgen machen und hoffen, dass alle juchhu schreien. Jemandem, der jahrelang vom Chef gesagt bekommt, was zu tun ist, kann es schwerfallen, plötzlich selbstorganisiert im Team zu arbeiten. Dann braucht es Qualifizierung und Begleitung. Das braucht Zeit. Und schließlich: Unternehmen müssen agiles Arbeiten auch konsequent betreiben, also die Praktiken konsequent umsetzen und die agilen Rollen konsequent leben.
Abseits der Unternehmenskultur: Gibt es typische Unternehmen, für die sich agiles Arbeiten eignet, und solche, für die es eher nichts ist?
Grundsätzlich eignet sich agiles Arbeiten für Unternehmen bzw. Bereiche und Teams, die etwas entwickeln. Wenn man an etwas Neuem arbeitet und noch nicht so genau weiß, in welche Richtung es geht, ist agiles Arbeiten ideal. In der Buchhaltung dagegen, um mal ein Beispiel zu nennen, ist im Arbeitsalltag eher wenig Spielraum für Entwicklung. Natürlich ist es auch dort toll, wenn sich Mitarbeitende Gedanken machen und sagen: „Das könnten wir doch anders machen.“ Aufgrund ihrer Arbeitsaufgaben ist die Einführung agiler Arbeit aber womöglich nicht der ideale Weg für diese Abteilung. Klassische Kandidaten sind daher Entwicklungsabteilungen in Unternehmen und Organisationen.
Frau Dr. Keller, herzlichen Dank für das Gespräch
Digitale Roadmap „Gesund agil arbeiten“
Ob erfahrene Anwender oder interessierte Einsteigerinnen: Unternehmen, die auf eine gesunde Gestaltung der agilen Arbeit achten möchten, bietet die VBG mit der Roadmap „Gesund agil arbeiten“ eine praktische Hilfestellung. Aus dem Forschungsprojekt „Agiles Arbeiten – flexibel, gesund, erfolgreich“, das die VBG gemeinsam mit der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) und der GITTA mbH durchgeführt hat, wurde ein modular aufgebautes Angebot entwickelt. Dieses können Interessierte eigenständig durchführen. Das Programm umfasst sowohl Konzepte für Workshops als auch Handlungsempfehlungen für den betrieblichen Einsatz. Die Angebotspalette reicht von der Einführung agiler Methoden bis zur gesunden Ausweitung des agilen Arbeitens im Unternehmen. Ein Modulnavigator hilft den Anwendenden dabei, herauszufinden, welches Angebot für sie passt. Alle Infos zur neuen VBG-Roadmap finden Sie hier.
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