Will man ein Unternehmen auf mögliche psychische Gefährdungen abklopfen, sollte man sich im ersten Schritt bewusst machen, was man eigentlich untersucht – und was nicht. „Die Gefährdungsbeurteilung ermittelt Belastungen, die durch die Gestaltung einer Tätigkeit oder eines Arbeitsplatzes entstehen können“, erklärt Ulf Krummreich, Arbeitspsychologe bei der VBG. „Sie misst aber nicht die individuelle Beanspruchung.“ Wie es um die psychische Gesundheit des oder der Einzelnen steht, ist hier also nicht Thema. Die Krux: Anders als Lichtverhältnisse oder Lärm kann man psychische Gefährdungen nur über den Menschen messen. Ohne deren Einbezug geht es also nicht. Darum ist es besonders wichtig, den gesamten Prozess sensibel zu planen und gut zu kommunizieren.
Die Gefährdungsbeurteilung ermittelt Belastungen, die durch die Gestaltung einer Tätigkeit oder eines Arbeitsplatzes entstehen können.
Teil des Gesetzes
Doch von vorn: Gehörte der Teilaspekt „Psychische Belastungen“ schon immer zu einer vollständigen Gefährdungsbeurteilung dazu, ist der Begriff seit 2013 explizit im Arbeitsschutzgesetz festgeschrieben. Das liegt laut Ulf Krummreich auch daran, dass psychische Erkrankungen zunehmen – und hohe Folgekosten verursachen. Eine Gefährdungsbeurteilung kann dem entgegenwirken. Um sie effektiv zu nutzen, sollte schon in der Planung die Besonderheit der Aufgabe berücksichtigt werden. Wichtig ist, Personen in den Steuerungskreis aufzunehmen, die sich mit psychischen Belastungen auskennen. Die also zum Beispiel wissen, welche Belastungsfaktoren bei einer bestimmten Tätigkeit auftreten können und wie man diese ermittelt.
Für Letzteres gibt es drei Methoden: Eine standardisierte Mitarbeiterbefragung sammelt die Selbsteinschätzung der Beschäftigten. Sie dient als Stimmungsbild, verrät aber noch nicht viel darüber, was sich konkret ändern müsste. Im Beobachtungsverfahren werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei ihren Tätigkeiten durch Fachleute beobachtet und gegebenenfalls dazu interviewt. Dies können externe Expertinnen oder Experten sein oder aber interne Fachleute, die entsprechend geschult wurden.
Und in Workshops kommen Beschäftigte und Führungskräfte zum moderierten Austausch zusammen. Eine goldene Regel, welche Methode zu welchem Unternehmenstyp passt, gibt es nicht. „In einem kleinen Betrieb mit 50 Beschäftigten, von denen vielleicht 25 bei einer Befragung mitmachen, sagt das Ergebnis wenig aus“, erläutert Ulf Krummreich. „Dagegen ist ein Workshop, in dem Beschäftigte und Führungskräfte aufeinandertreffen, ohne eine offene Vertrauenskultur im Unternehmen auch nicht zielführend.“ Das ehrliche Gespräch müsse möglich sein. Wenn dem so sei, dann äußern sich die Beschäftigten in der Regel auch, denn „es geht ja um Arbeitsplatz und Tätigkeit.“
Was ist „noch okay“?
Hinterfragt werden also die Rahmenbedingungen, nämlich Arbeitsinhalt bzw. -aufgabe, Arbeitsorganisation, soziale Beziehungen am Arbeitsplatz und Arbeitsumgebung. In jedem Bereich verbergen sich einige Belastungsfaktoren. Wer zum Beispiel im Callcenter arbeitet und bei Anrufen einen akribisch genauen Gesprächsleitfaden nutzen muss, der hat keinerlei Handlungsspielraum. Diese Unfreiheit im Arbeitsinhalt kann zur gefährdenden Belastung für die Psyche werden. Auch die Arbeitsorganisation birgt Gefährdungen – etwa wenn Beschäftigte durch geteilte Schichten zweimal am Tag zu den Stoßzeiten bei der Arbeit erscheinen müssen. Soziale Beziehungen am Arbeitsplatz können hingegen durch einen destruktiven Führungsstil negativ belastet werden.
Doch wo verläuft die Grenze zwischen „noch okay“ und „potenziell gefährdend“? Auch hier gibt es keine allgemeingültige Antwort. „Wir sind bei der Arbeit permanent belastet“, erklärt Ulf Krummreich, „was erst mal nicht negativ ist.“ Im Gegenteil: Ein wenig Belastung spornt uns sogar an. Ab wann sie ins Negative kippt, lässt sich mithilfe von Expertinnen und Experten, evaluierten Messinstrumenten und den entsprechenden Interpretationsmethoden gut ermitteln – aber immer nur im individuellen Kontext eines einzelnen Betriebs. Wer hier unsicher ist, wie er oder sie den ganzen Prozess überhaupt anpacken soll, kann sich von der VBG beraten lassen. Werden aus den Erkenntnissen schließlich konkrete Verbesserungsmaßnahmen entwickelt, brauchen Unternehmen Geduld. Ihre Wirkung zeigt sich verzögert, insbesondere was Verhaltensänderungen betrifft. „Offen und transparent darüber zu kommunizieren, am besten von Anfang an, holt alle ins Boot“, sagt Ulf Krummreich. Im Idealfall versteht jeder der Beteiligten die Gefährdungsbeurteilung dann als das, was sie ist: ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess.
So unterstützt die VBG
- Als Einstieg in das Thema Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung bietet die Themenseite VBG – Psychische Belastung einen guten Überblick.
- Für Unternehmen mit bis zu 50 Beschäftigten bietet die VBG eine Kurzanalyse im Team, kurz KiT. Das moderierte Verfahren zur Analyse von Gefährdungen ermöglicht auch die Ausarbeitung von konkreten Maßnahmen, bei denen Expertinnen oder Experten der VBG gerne beraten. Weitere Informationen zu KiT finden Sie hier.
- Für größere Unternehmen ist das Online-Tool der VBG für gut gestaltete Arbeitsbedingungen geeignet. Damit wird die psychische Belastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter systematisch erfasst. Die anonymisierten Ergebnisse können als Grundlage für Workshops und Maßnahmen dienen. Mehr dazu auf dieser Seite.
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