Sie forschen schon lange zum Thema Arbeitsstress. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Erkenntnisse auf diesem Gebiet?
Die Frage löst bei mir Stress aus, denn wir blicken auf mittlerweile über 100 Jahre Stressforschung zurück. (lacht) Ich würde sagen, die wichtigste Erkenntnis ist, wie Stress entsteht. Stress entsteht, wenn wir uns bedroht fühlen – egal ob niedrigschwellig oder existenziell. Als Reaktion darauf klopfen wir unsere Ressourcen ab, um dieser Bedrohung zu begegnen. Diese Ressourcen sind entscheidend: Wenn die greifen, entsteht Stress gar nicht erst. Solche Ressourcen können zum Beispiel Autonomie bei der Arbeit, ein unterstützendes Team oder eine verständnisvolle Chefin sein. Wenn man das verstanden hat, kann man in Sachen Prävention viel tun und erreichen. Die zweite Erkenntnis lautet: Wir kennen sehr viele gut untersuchte typische Stressoren und können ihnen präventiv begegnen. Dafür gibt es wirksame Hilfsangebote. Und drittens: Prävention wirkt! Sie senkt Fehlzeiten und macht die Mitarbeitenden zufriedener und produktiver.
Und welche Aspekte kommen Ihrer Meinung nach bei der Prävention von Arbeitsstress zu kurz?
Insbesondere Beschäftigte mit niedriger Qualifikation und schlechten Positionen am Arbeitsmarkt profitieren derzeit kaum von Prävention, haben zugleich aber die schlechtesten Arbeitsbedingungen. Eine andere Gruppe sind junge Beschäftigte, die wir mit Prävention häufig nicht erreichen. Entweder weil wir davon ausgehen, dass sie jung und fit sind und vieles nicht brauchen. Oder weil die Art, wie Prävention betrieben wird, sie nicht anspricht. Wir sehen aber schon bei jungen Beschäftigten hohe Belastungswerte und erste gesundheitliche Beeinträchtigungen. Häufig fallen diese beiden Gruppen übrigens zusammen, da junge Menschen oft mit Zeitverträgen und unklaren Zukunftsaussichten arbeiten.
Auf Ihrer Webseite lesen wir: Arbeitsbedingungen werden im sozialen System des Betriebs gestaltet. Was ist darunter zu verstehen?
Soziales System meint das Geflecht, aus dem Betriebe bestehen: soziale Beziehungen, organisatorische Festlegungen und psychische Eigenschaften der Menschen. Dieses Geflecht hat viele Aspekte. Zum Beispiel die Organisationsstruktur: Wie sind Hierarchie, Führungsstruktur und Verantwortlichkeiten gestaltet? Oder die Unternehmenskultur: Welche Werte und Normen werden im Unternehmen gelebt? Wie sehen die Macht- und Einflussstrukturen aus, gibt es zum Beispiel Mitarbeitendenvertretungen? Das sind Beispiele für eine Vielzahl von Parametern, die dieses System ausmachen.
Wie gelingt Stressprävention in derart komplexen Systemen?
Prävention wird idealerweise auf all diesen Ebenen mitgestaltet. Es funktioniert nicht, wenn wir den Leuten Stressbewältigungskurse verordnen, aber das Unternehmen die Mitarbeitendengesundheit ansonsten nicht lebt. Ein Beispiel: Es gibt zahlreiche Versuche, in Krankenhäusern Prävention durch einzelne Projekte einzuführen, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Viele dieser Projekte scheitern, weil das Drumherum nicht passt. Die Leute haben viel zu viel zu tun. Wenn ich ihnen abends noch einen Kurs anbiete, treffe ich die Bedürfnisse nicht. Man muss aufpassen, mit Prävention nicht das Gegenteil zu bewirken. Nämlich in das soziale System noch mehr Druck reinzugeben, ohne dass man etwas an den zugrundeliegenden Ursachen ändert.
Flexibilität ist Chance und Risiko zugleich. Entscheidend ist, dass sie gestaltet wird.
Wie lässt sich es sich denn vermeiden, die Stressprävention an den Bedürfnissen der Belegschaft vorbeizudenken?
Dafür sind Mitarbeitendenvertretungen zentrale Akteure. Sie stoßen häufig Veränderungen an, weil sie die Bedürfnisse am eigenen Leib erfahren. Für die Unternehmensleitung ist es wichtig, zu zeigen, dass sie diese Bedürfnisse und die Gesundheit der Beschäftigten ernst nimmt. Dass es ihr wichtig ist, dafür etwas zu tun. Man muss ins Gespräch kommen und auch die Defizite offen ansprechen. In der Forschung spricht man von einem „Psychosocial Safety Climate“. Es beschreibt die Bereitschaft der Geschäftsleitung, im Sinne der psychischen Gesundheit der Beschäftigten zu handeln. Dieses Sicherheitsklima zu schaffen, ist ein wichtiger Schritt für effektive Prävention. Im nächsten Schritt müssen natürlich auch Maßnahmen ergriffen werden. Welche das sind, hängt vom Problem ab. Mir ist wichtig zu betonen, dass das in der Praxis gar nicht so kompliziert sein muss, aber eben stimmig. Dafür gibt es Werkzeuge und Unterstützungsstrukturen für Unternehmen, auch bei der VBG. Die Gefährdungsbeurteilung ist das zentrale Instrument. Mit ihr lassen sich spezifische Belastungsfaktoren gut messen und erkennen.
Eine besondere Herausforderung besteht, wenn Sie Belegschaften gar nicht mehr sehen, weil alle mobil arbeiten. Hier hilft es, wenn im Betrieb das angesprochene Sicherheitsklima herrscht. Aber klar ist: Es existieren hohe Ansprüche an Führungskräfte, solche dezentralen Teams zusammenzuhalten und dieses Klima zu erzeugen. Es gibt erste Überlegungen und Studien, wie man mit Präventionsmaßnahmen auch Leute erreicht, die mobil sind, nicht dauerhaft im Betrieb, nicht so gut ins soziale System integriert. Aber hier ist dringend Forschung angezeigt – und Praxiserprobung.
Gerade die Flexibilisierung der Arbeit hat enorm zugenommen. Haben Sie – bei allem Forschungsbedarf – dennoch Tipps, wie man diese gesundheitsförderlich gestalten kann?
Flexible Arbeit ist in Sachen Prävention ein Faktor, bei dem wir eine ambivalente Situation haben. Nicht selten sagen ein und dieselben Leute in Studien, dass flexibles Arbeiten sie einerseits stresst, sie es andererseits aber gut finden. Flexibilität ist also Chance und Risiko zugleich. Entscheidend ist, dass sie gestaltet wird. Ich rate davon ab, die Leute einfach ins Homeoffice zu schicken und zu schauen, wie das funktioniert. Man sollte die Rahmenbedingungen, etwa zur Erreichbarkeit und zur Unterstützung durch das Team und die Führungskraft, vorher regeln – und zwar im Dialog mit den Menschen selbst.
Gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen sind meist auch produktive Arbeitsbedingungen.
Inwiefern kann eine Gefährdungsbeurteilung bei mobiler Arbeit helfen?
Genauso wie im Büro. Denn natürlich können wir eine Gefährdungsbeurteilung auch für Belegschaften machen, die im Homeoffice arbeiten. Es gibt zwar spezifische Themen, die dort relevanter oder komplizierter sind als im Büro, zum Beispiel Ergonomie oder Probleme mit dem digitalen Arbeiten. Aber die kann man benennen und abfragen.
Haben Sie das Gefühl, dass es bei den Unternehmen schon angekommen ist, dass sie auch für die Prävention bei der Arbeit im Homeoffice verantwortlich sind?
Wir haben aktuell ein Forschungsprojekt zur gesundheitsförderlichen Gestaltung der Arbeit im Homeoffice. Bei den teilnehmenden Unternehmen gibt es ein Bewusstsein dafür. Aber bei der Suche nach Betrieben zeigte sich, dass sich viele nicht so richtig mit dem Thema beschäftigen wollten. Deren Regelungen sind oft ad hoc während der Coronapandemie entstanden, ohne wissenschaftliche Basis. Mein Appel ist, da nochmal genau hinzusehen. Denn wir wissen, dass gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen meist auch produktive Arbeitsbedingungen sind – also gut fürs Unternehmen insgesamt.
So unterstützt Sie die VBG
Als Einstieg in das Thema Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung bietet Ihnen die Themenseite VBG – Psychische Belastung einen guten Überblick. Dort finden Sie auch eine Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Planung, Durchführung und Dokumentation der Gefährdungsbeurteilung.
Veröffentlicht am